Zur Ausstellung FALLEN London, 2008
Patrick Heide
Ina Geißler schafft Räume; ziemlich verschachtelt doch irgendwie auch vertraut. Ina Geißlers Räume sind Grenzgänger zwischen Erkennen und Abstraktion, zwischen zweiter und dritter Dimension. Eigentlich alle Werke der Berliner Malerin bewegen sich zwischen der Anlehnung an konkrete Räume und deren Abstraktion, wobei in den neuen Malereien die Tendenz zum Abstrakten eindeutig zunimmt.
Geißlers Serie EINSICHT gibt einen wunderbaren Einblick in diese von der Realität abgehobene Raumwelt. Man gewinnt den Eindruck, dass man von oben in ein Gebäude schaut, das Dach ist abgehoben und die Stockwerke darunter schimmern hindurch. Treppenhäuser, Geländerausschnitte, Fensterfluchten, selbst Materialien wie Holzfurniere, Zement oder gemusterte Gardinenstoffe tauchen auf und wieder ab. Man meint, Elemente einer glatten, futuristischen Architektur zu erahnen, die jedoch malerisch ihr Gegengewicht in teils dicht und schnell aufgetragenen Pinselflächen findet. Auch die Verwendung von Eitempera trägt zu diesem Ausgleich bei: Matte, gedeckte Farben, zurückhaltend im Vergleich zur Ausdruckskraft der Motive. Dieser Gegensatz zwischen architektonischem Raum und sinnlicher Malerei machen den besonderen Reiz der Malerin Ina Geißler aus, ihre Bilder sind eigentlich abstrakt, wirken aber dennoch geerdet.
Empfohlen wurden mir Ina Geißlers Malereien von einer Architektin. Was wenig ver wundert, da die Künstlerin ihre Bilder quasi baut. Farbfläche wird über Farbfläche gelegt, die Kompositionen enstehen Schicht für Schicht. Gerüst während des Arbeitsprozesses sind Klebebänder, mit denen sie ihre Flächen begrenzt und die nach dem Entfernen die tieferliegenden Schichten freilegen. Kompositorische Anregungen entspringen oft Fotovorlagen, die sie digital neu zusammensetzt, manche als montagehafte Skizzen, andere als eigenständige Fotowerke.
In Ina Geißlers Gemälden war früher oft erkennbar, woher die Versatzstücke ihrer Kompositionen kamen: Möbelserien (TischStuhl), Rauminnenansichten, dann oft Fassadenteile von Berliner Plattenbauten mit den typischen Balkons und Markisen. In den neuen Arbeiten sind die Ursprünge ihrer Motive kaum noch auszumachen, die Dynamik der Kompositionen nimmt Überhand. In die neuen Raumkonstruktionen wird man spiralenförmig eingesogen, man kommt ins FALLEN. Beim Betrachten der titelgebenden Serie zur Ausstellung meint man orientierungslos durch komplexe Raumstrukturen zu schweben. Schwer kann man sich der Sogwirkung von Ina Geißlers Malereien entziehen, sie nimmt gefangen, lässt einen ins Strudeln geraten, sie stellt visuelle ‚Fallen‘.
Zum ersten Mal zeigt die in Berlin lebende Künstlerin auch eine Auswahl ihrer wunderschönen Zeichnungen und Collagen. Die Motive sind im Grunde denen der Malereien ähnlich. Den Gemälden noch am nächsten ist die Serie RICHTUNGSSCHICHTUNG. Doch die Papierarbeiten sind weniger bewegt, dafür einfühlsamer, die Farben wärmer. Linien und Farben erkunden die Muster und Oberflächenbeschaffenheit von Geißlers Räumen. Teils in zartem Aquarell wie in der Serie VORFALL, dann aber auch durchzogen von dunkleren, härteren Linien mit zum Teil auch eincollagier ten Klebebandstrukturen. Einige der Papierarbeiten behalten einen skizzenhaften Charakter wie auch manche der Fotomontagen, viele lassen dennoch den Anspruch an eine vollendete Komposition erkennen.
Ina Geißler irritiert und erweitert unsere Sehgewohnheiten mit ihren sowohl verdeckenden als auch durchlässigen Überlagerungen. In vielerlei Hinsicht ist sie Malerin im klassischen Sinne, ihre Malerei trotzt der heutigen Bilderflut in Film und Netz. Gleichzeitig schafft sie einen Raumkosmos, der einen Bogen zu den komplexen Strukturen von Stadt und Natur schlägt und als lakonisch-widersinniges Kommentar auf unsere Zeit oder sogar als bildnerischer Filter für das digitale Zeitalter gelesen werden kann.
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