Von der Konstruktion des Bildraumes zur Dekonstruktion des Blickes

Zu den neueren Raumbildern Ina Geißlers | Daniel Marzona

Vor etwa zwei Jahren begegnete ich der Malerei Ina Geißlers erstmals in ihrem schönen Atelier am Prenzlauer Berg. Sie arbeitete damals an einer Serie von Bildern, denen sie den Titel RAUMLÖSUNG zuwies und die von Vielen wohl am ehesten unter dem Schlagwort der Dekonstruktion diskutiert werden. Das scheint zunächst auch einmal schlüssig, da ihr Verfahren, ausgehend von zumeist selbst gemachten Fotografien, reale Räume mit imaginierten zu verschmelzen, in der Tat dekonstruktivistische Züge aufweist. Bemerkenswerter Weise ließen sich die Resultate dieser Vorgehensweise zumindest aus meiner Sicht keineswegs als Dekonstruktionen begreifen. Die zumeist großformatigen Bilder, so komplex und zum Teil verwirrend ihr räumlicher Aufbau auch ausfiel, blieben immer als Einheitliches lesbar, wiesen alle eine eher durchdachte Komposition, eine im Blick auf die Bildwirkung als Ganzes stringent wirkende Farbgebung auf. Hier zerfiel nichts in disparate Einzelteile, die Bilder hatten nichts Fragmentarisches an sich. Der Blick auf sie gerät nicht ins Taumeln, sondern gleitet wie bei EINSICHT 1 ruhig hinein in sich überlagernde Perspektivkonstruktionen mitsamt ihren zumeist auf Hell -Dunkelkontrasten basierenden Farbräumen. Kurz gesagt, schien es mir, als arbeite hier jemand mit den Versatzstücken der Realität ganz so wie es die Konstruktivisten mit ihren vermeintlich rein abstrakten Mitteln taten. In den besten dieser Bilder trat denn auch bei eingehender Betrachtung der Bezug zur photographischen Vorlage in den Hintergrund, eine doppelte Lesbarkeit zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit setzte ein, die der Interpretation ein weites Feld öffnete.

FALLEN

Dass in der Zusammenfügung und Überlagerung unterschiedlicher Bildräume weniger etwas Neues, also eine bislang unbekannte Erkenntnis in Bezug auf das Sujet, als vielmehr etwas ganz und gar Anderes entstehen kann, beweisen die neueren Bilder Geißlers, die vorwiegend nun nicht mehr auf photographischen Vorlagen beruhen und insgesamt ihr Dasein als Malerei mit einem anderen Selbstbewusstsein bekunden, als es bis vor kurzem der Fall war. Alle Bilder der Serie FALLEN erweisen sich im Vergleich mit älteren Arbeiten als offener für den simultanen Einsatz der unterschiedlichsten malerischen Mittel. War die Farbgebung der früheren Bilder zumeist zurückgenommen und ihr Aufbau einer zwar verzerrten, aber dennoch klaren Geometrie verpflichtet, nimmt sich Geißler in den neuen Werken die Freiheit, eine Vielzahl auch nicht komplementärer Farben zu kombinieren, klar definierte Formen eher wolkig gemalten Flächen gegenüberzustellen und ihr Sujet derart zu verfrem- den, dass es an Signifikanz zu verlieren droht.

EINSICHT 4 ist meines Erachtens das erste Bild Ina Geißlers, dessen Dynamik nicht mehr auf dem Prinzip der Verschränkung von Abstraktion und Gegenständlichkeit, der Verkehrung von Innen und Außen, von Davor und Dahinter beruht. Was sich in der Verschiebung, Überlagerung und Kontrastierung der vor und zurückspringenden Ebenen und Formen hier auftut, könnte man mit Recht als Dekonstruktion bezeichnen, allerdings nicht als Dekonstruktion von Räumen, sondern als Dekonstruktion des räumlichen Sehens an sich. Das wunderbare Bild führt uns ein Paradox vor. Der illusionistische Bildraum bietet zwar keine eindeutigen Hinweise, die ihn im Sinne einer mimetischen Darstellung als gegenständlich lesbar machten. Dennoch fordert uns die Betrachtung der Bildfläche geradezu heraus, unserer Wahrnehmung von (Bild)Räumlichkeit zu reflektieren, der Räumlichkeit eines luftleeren Raumes nachzuspüren. Auch FALLEN 8 lässt sich nur noch mit größter Mühe als eine Darstellung architektonischer Räume deuten. Man könnte vielleicht von einem Blick in oder auf eine transparente Kuppelarchitektur sprechen, der von einer an Tapetenmuster der 70er Jahre erinnernden Ornamentik partiell am Eindringen in die Tiefe gehindert wird. Ebenso gut könnte man allerdings von einer rein abstrakten Komposition ausgehen, die mit subtilen Mitteln, beispielsweise der Nuancierung der Grautöne innerhalb der zentralen Kreisfigur und deren Überlagerung durch blaue und beige-braune Farbflächen eine Räumlichkeit suggeriert, die jeder Anbindung an tatsächlich Gesehenes enthoben scheint und die so eben nur in der und als Malerei möglich ist.

In Anbetracht von FALLEN 6, einem merkwürdigen Bild, in welchem sich bunte Streifen, die eine konische Form beschreiben, über eine unregelmäßige Gitterstruktur legen, der wiederum eine sich in die Raumtiefe verflüchtigende, rot-schwarze Spiralform unterlegt ist, kann ich mit einer Vermutung nicht länger hinterm Berg halten, die sich mir beim Betrachten der neuen Arbeiten insgesamt aufdrängte: es muss ein Vergnügen gewesen sein, diese Bilder zu malen, den Ernst fahren zu lassen und sich im Bild Räume zu phantasieren, wie sie uns in der Literatur nur im Werk von Paul Scheerbart begegnen. Ina Geißler hat sich in den letzten Jahren in ihrer Malerei eine Freiheit erarbeitet, die es ihr erlaubt auf technisch höchstem Niveau mit Form, Farbe und Raum zu spielen und so Raumbilder zu entwerfen, die Humor offenbaren und uns dennoch Wesentliches über das Sehen lehren. Scheerbarts Roman Lesabendio beginnt bekanntlich mit den Worten:“Violett war der Himmel. Und grün waren die Sterne. Und auch die Sonne war grün.“

 

 

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