Produktive Einbildungskraft – Die neuen Gemälde von Ina Geißler

Von Peter Lodermeyer

Das zentrale Thema von Ina Geißler sind gemalte Bildräume. Damit ist der produktive Widerspruch benannt, aus dem sich ihre Malerei speist und der ihren Gemälden ihre spezifische bildnerische Dynamik verleiht: Es ist der fruchtbar gemachte Konflikt zwischen dem flachen Bildträger und den ineinander verschachtelten Raumeinheiten, die sich aus zahlreichen gemalten Linien, Flächen und Strukturen zusammensetzen und sich zu einem hochkomplizierten Bildganzen verweben. Die Raumwirkung der Bilder ergibt sich durch die sehende Mitarbeit des Betrachters. Ina Geißlers Arbeiten fordern in besonderem Maße eine aktive Rezeptionshaltung, das Sehen als bewussten Akt.

Dass die Künstlerin ihre Auseinandersetzung mit Räumlichkeit zunächst immer wieder an architektonischen Versatzstücken erprobte, war in ihren früheren Bildserien und Fotocollagen deutlich zu sehen; wobei betont werden muss, dass es dabei nie um Architektur im Sinne von Baukunst ging, sondern um Elemente, die unsere alltäglichen Lebensräume funktional gestalten, verzieren oder verschandeln. Balkone, Geländer, Markisen, Treppenstufen usw. waren in ihren früheren Arbeiten, in Verbildlichungen der Auflösung ihrer jeweiligen Funktionalität, mehr oder minder deutlich zu erkennen. Diese architektonischen Referenzen verschwinden nun in den letzten zwei, drei Jahren zunehmend aus Geißlers Bildern und lassen immer mehr Raum für eine rein malerische Behandlung ihres Themas. Aus den neuesten Arbeiten sind alle eindeutig benennbaren Wirklichkeitsfragmente getilgt. So sind etwa von den Satellitenschüsseln früherer Arbeiten lediglich Kreisformen zurückgeblieben, die sich geradezu leitmotivisch durch die jüngsten Bildserien von Ina Geißler ziehen: als „Schwärme“ von Kreislinien, Scheiben und Gucklöchern, die den Blick in tiefer liegende Bildschichten erlauben (und nichtsdestotrotz oft genug optisch ganz nach vorne, in die vorderste Bildebene, springen), oder als bildbestimmende konzentrische, oft eckig gebrochene Kreissegmente, die den Blick des Betrachters hypnotisch in die Gemälde und ihre komplexen Raumwelten hineinziehen. Der Kreis ist insofern von besonderer Bedeutung, als er von allen geometrischen Grundformen der traditionell rechteckigen Bildform am schärfsten widerspricht und somit die größtmögliche formale Spannung erzeugt. Die Kreisform erlaubt es der Künstlerin, ihre Bildflächen optisch aufzusprengen; die Formen wölben sich gleichsam in den Raum (den Bildraum oder den Realraum) hinein und akzentuieren so das Grundthema: die Spannung zwischen der materiellen Bildfläche und den illusionistischen Raumelementen.

Der IIlusionismus der Bildmittel ist eine Selbstverständlichkeit in Ina Geißlers Malerei. Man müsste einmal genauer untersuchen, warum die modernistische Kunsttheorie der 60er-Jahre mit geradezu moralischem Eifer versuchte, jeden Illusionismus aus der Kunst zu vertreiben. Für einen Minimalisten wie Donald Judd war allein die Tatsache, dass unterschiedliche Farben unterschiedliche illusionistische Bildtiefen suggerieren, ein schwerwiegender Einwand gegen die Malerei überhaupt.[1] Illusionismus ist eine Frage des Sehprozesses. Hirnforscher und Neuroästhetiker werden sicher plausible Gründe dafür nennen können, warum jedem Sehen per se ein illusionistisches Moment eigen ist. Was in unserem Zusammenhang viel mehr Gewicht hat als naturwissenschaftliche Erklärungen, ist die Erfahrung aus der Praxis der Malerei. So sagte Gerhard Richter einmal mit Bezug auf seine zweifellos unter dem Einfluss des amerikanischen Minimalismus entstandenen monochromen grauen Bilder der 70erJahre: „Damals gab ich mir Mühe, dieses illusionistische Funktionieren der Bilder zu verhindern, und stellte dann fest, daß gerade diese Bilder den rigorosesten Illusionismus aufweisen.“[2]

„Illusionismus“ klingt allzu sehr nach Blendwerk und Taschenspielerei – worum es wirklich geht, ist die Tatsache, dass ein Bild nie einfach „gegeben“ ist, sondern die sehende Mitarbeit des Betrachters erfordert, anders gesagt: seine produktive Einbildungskraft aktiviert. Eine reflektierte Künstlerin wie Ina Geißler ist sich dessen sehr bewusst, dass der Betrachter der Mitkonstituent des Bildes ist. Die Bildgenese im Anschauungsakt wird bei ihr daher selbst thematisch. Dies geschieht insbesondere durch die Komplexität der Räumlichkeit. Es gelingt prinzipiell nicht, die zahlreichen potenziellen Raumkompartimente in einem übergeordneten Raumganzen zu verorten. So ist der Blick immer wieder herausgefordert, Hypothesen über die Raumverhältnisse zu wagen und bei ihrem Scheitern neu anzusetzen. Es ist eine ästhetische Erfahrung besonderer Art (die keine Abbildung wirklich vermitteln kann), wenn man lange vor einem dieser Gemälde steht oder besser noch: sich bewegt und dabei zusehen kann, wie sich die Raum suggerierenden Elemente für unsere Wahrnehmung immer neu konfigurieren, die Gemälde neu Gestalt (im Sinne der Gestaltpsychologie) annehmen, und wie nach längerer Betrachtungszeit die Bilder jeweils als in sich stimmiges Ganzes erfahren werden, ohne dass freilich die Widersprüche im räumlichen Gefüge aufzulösen wären. Diese Stimmigkeit verdankt sich der Überzeugungskraft der Malerei von Ina Geißler.

Es ist keine Frage, dass diese Arbeiten auch die Erfahrung der technisch erzeugten Bilder, insbesondere des Internets mit seinen vielfältigen Möglichkeiten der Verschachtelung unterschiedlichster Raum- und Wahrnehmungsebenen reflektieren. Umso bemerkenswerter ist es, dass Ina Geißler jeder Versuchung widersteht, mit der Computer-Ästhetik zu konkurrieren und ihren Arbeiten ein glattes, technologisches Design mitzugeben – ganz im Gegenteil: Um die Erfahrung virtueller Bildräume zu „erden“, wie sie es nennt, benutzt sie bewusst eine der ältesten Methoden, Pigmente mit einem Malmittel zu binden, nämlich die Technik der Eitemperamalerei mit ihrer ganz spezifischen Farbwirkung. Wenn man nahe genug an Ina Geißlers Gemälde herantritt, so nahe, dass die illusionistische Wirkung sich verflüchtigt, wird man sich der besonderen Qualität der malerischen Faktur bewusst.

Nicht weniger wichtig ist die Technik der Aquarellmalerei. In diesem Medium gelingen Ina Geißler malerische Etüden von bestechender Prägnanz, Blätter, auf denen sich die Grundformen, insbesondere Dreieck und Kreis, immer wieder zu Konfigurationen zusammenschließen, die wie Modelle erscheinen. Modelle wofür? Natur-, Welt-, Bewusstseinmodelle? Am ehesten sind es Mind Maps durch das unbegrenzte und unbegrenzbare Universum gemalter Bildräume.

 

[1] Vgl. dazu Donald Judd, Specific Objects [1965], in: ders., Complete Writings 1959-1975, Halifax / Nova Scotia / New York 2005, S. 181-189, insbes. S. 181f.

[2] Interview mit Hans Haase 1977, in: Gerhard Richter, Text. Schriften und Interviews. Herausgegeben von Hans Ulrich Obrist, Frankfurt a. M. 1993,S. 85-88; Zitat S. 87.