Gespiegelte Reflexionen

Frank van der Ploeg, Katalogtext zur Paper Biennale Rijkswijk 2016

Buchstaben werden Worte. Worte werden verdoppelt, sogar gespiegelt. Durch Wiederholungen prägen sie sich ins Gedächtnis ein. Ina Geißler Papierarbeiten können visuell oder verbal gesehen werden. Optisch verlangen sie nach Aufmerksamkeit; textlich fordern sie Ihre Konzentration heraus. Dies geschieht nicht nur, weil die Sätze in einer modernistischen Schrift gesetzt sind und sie so nicht auf den ersten Blick lesbar sind, sondern vor allem, weil sie poetisches Verständnis eines des Lesens kundigen Betrachters verlangen.

Die Kunst ist von sich aus visuelle Poesie. Wenn der Künstler eine Geschichte von Anfang bis Ende erzählen wollte, würde er/sie literarische Prosatexte schreiben. Viele Künstler vermeiden das geschriebene Wort, obwohl die meisten sehr wohl ihren Bildern eine Richtung durch einen Titel geben möchten. Ina Geißler (1970, Hamburg, Deutschland) ist in der Regel mehr mit dem Visuellen als mit Sprache verbunden, aber in ihren gefalteten Papierarbeiten verbindet sie beides. Ohne die Worte, könnte man ihre Cut-outs in die Rubrik „gut gemachte Kunst“ einordnen. Das Literarische erweitert ihre Arbeit um eine zusätzliche Ebene.

Wort-Bilder 

Die Vielzahl von Schichtungen ist in allen Arbeiten von Ina Geißler wichtiger Bestandteil. Ihre Ei- Temperabilder, ihre Fotocollagen – sie alle sind in Einzelteile „zerlegte“ Bilder, welche Flächiges und Unzusammengehöriges miteinander verknüpfen. In ihrem Papier-Epigrammen von 2015 POETISCHE ANWEISUNGEN hat sie die Worte nicht einfach ausgeschnitten, sondern ihn mehrfach gespiegelt, verdoppelt und dies mehrmals und abwechselnd. Diese Arbeiten können von der Wand entfernt und von beiden Seiten gelesen werden. Sie auf den Kopf zu lesen, ist wahrscheinlich auch möglich ¬– mit ein paar von ihnen! Wie die Werke beleuchtet sind, spielt auch eine wichtige Rolle dafür, ob mehr das Wort oder das Bild in den Vordergrund tritt.
Neun Serien sind bis jetzt entstanden, welche die Prämisse der poetischen Anweisungen miteinander teilen – knappe Anreize oder Richtlinien. Jedes Mal, wenn eine solche Reflexion soweit ist, dass sie in das lackierte Papier geschnitten wird, macht sie eine Familie aus ihnen, die Geißler Porträts nennt. Der Serie wird ein Vornamen als Titel gegeben, zusammen mit einem Buchstaben, um die verschiedenen Variationen zu unterscheiden. (Geißler hat wahrscheinlich eine bewusste Wahl sie mit Buchstaben zu „nummerieren“.)

Die Anweisungen im Imperativ sind oft nicht mehr als ein kurzer Satz, aber der ist erfüllt mit einem Berg von Bedeutung. Was soll man mit Irene machen: FLORISH ON YOUR THRESHOLDS? Das könnte bedeuten: gehe über deine Grenzen, entwickele dich, dehne dich aus deinem Wendepunkt heraus? Ein weiterer guter ist Fidelio: BUILD BRIDGES OF GAPS (frei interpretiert: lasse zu, dass das, was zwischen dir und einem anderen steht, das ist, was euch verbindet). Während diese Worte zur individuellen Interpretationen auffordern, scheinen die nächsten sich mehr an Bildermacher oder die Interpreten von Bildern zu richten, welche durch die Medien auf uns einstürmen. Gaudazio: STELL DIE WAHRHEIT HINTER DEM BILD VOR ist ein Aufruf, die Wahrheit hinter der Propaganda, getrennt von seinem Nennwert zu suchen.

Abschließend noch eine andere Anweisung- welche das in Worte legt, was Ina Geißler mit diesen Kunstwerken erzielt. Emil: BRING STAGE AND BACKSTAGE INTO HARMONY. Es liegt an dir. Was ist Vordergrund und was Hintergrund? Das Bild oder die Poesie? Es ist unmöglich, mehr zu sagen. Ergo: “The Harmony is fact”.

 

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